Sehr geehrter Herr Steinmeier,

mit großem Interesse haben wir Ihr Regierungsprogramm im Internet gelesen. Dort heißt es z.B.:

  • „Erstklassige Bildung ohne Gebühren“
  • „[…] Darum haben wir ein klares Ziel für Deutschland: Jede und jeder soll einen Schulabschluss und einen Berufsabschluss machen. Für dieses Ziel fördern wir Bildung auf allen Ebenen.“
  • „Wir fördern jede und jeden, der seinen Schulabschluss nachholen möchte. Parallel dazu führen wir eine Berufsbildungsgarantie ein, für alle, die über 20 sind und weder Abitur noch Berufsabschluss haben.“
  • „Der Grundstein für Bildung wird schon im Kindesalter gelegt. […]“

In der Tat sehr ambitionierte und lobenswerte Ziele und Ansichten. Herr Steinmeier, da Sie für die SPD um das Amt des Bundeskanzlers kämpfen, möchten wir die Gelegenheit nutzen, Sie darauf hinzuweisen, dass andere Amtsträger aus Ihrer Partei eine Politik betreiben, die in keinster Weise mit den o.g. Idealen in Einklang zu bringen ist, ja sogar kontraproduktiv ist. Konkret geht es um Ihren Parteigenossen Jürgen Zöllner, den Berliner Bildungssenator, und die ihm untergeordnete Behörde, die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung.

Schulkinder mit Behinderungen in Berlin sind teilweise für den Besuch der Schule und die Teilnahme am Unterricht auf einen Schulhelfer angewiesen. Diese Schulhelfer unterstützen die Kinder bei der Kommunikation, beim Lernen und auch bei hygienischen und medizinischen Notwendigkeiten in der Schule, sowohl an Förderzentren, als auch an Regelschulen. Sie leisten zukunftsweisende, manchmal sogar überlebensnotwendige und lebensrettende Hilfestellungen.

Für Schulhelfer sind für das vergangene Schuljahr 2008/2009 Kosten in Höhe von 9,5 Mio. Euro aufgewandt worden – bestehend aus drei Finanzierungsteilen: einer Regelfinanzierung im Berliner Haushalt in Höhe von 5,225 Mio. Euro, Dispositionsgelder der Bezirke in Höhe von insgesamt ca. 2,775 Mio. Euro sowie einer Nachschubfinanzierung in Höhe von 1,5 Mio. Euro im Oktober 2008. Man rechnet pro Schuljahr mit einer Kostensteigerung von ca. 8%, durch verbesserte Diagnostik von Behinderungen, durch eine steigende Zahl von Kindern mit Förderdiagnosen, sowie durch zunehmenden Schulhelferbedarf in der integrativen und inklusiven Beschulung.

Im Zuge der Planungen für den nächsten Berliner Doppelhaushalt 2010/2011 wurden diese Gelder von Bildungssenator Zöllner mit dem Finanzsenator neu verhandelt. Resultat: die Regelfinanzierung steigt von 5,225 Mio. Euro auf 8 Mio. Euro – dafür fallen die Dispositionsgelder und die Nachschubfinanzierung komplett weg. Während die Senatsverwaltung für Bildung dies in Pressemitteilungen und Briefen an Betroffene als Mittelerhöhung zu verkaufen versucht, indem man den Wegfall der beiden anderen Finanzierungsquellen konsequent verschweigt, wird jedem dies bei korrekter Nennung der o.g. Werte auf den ersten Blick klar: hier hat keine Erhöhung, sondern eine Kürzung um 20% stattgefunden.

Grund dafür war u.a. mangelhafte Verwaltungsvorarbeit, da aufgrund vollkommen falscher bzw. veralteter Statistiken, um deren Erneuerung man sich seitens der Senatsverwaltung für Bildung nicht bemüht hat, der tatsächliche Anstieg an Kindern, Diagnosen und Bedarf als Faktor für die Kostensteigerungen nicht richtig begründet wurde. Man hat sich nicht die Mühe gemacht, die Förderbedarfe der einzelnen Kinder zu differenzieren und ggf. mehrfachen Förderbedarf statistisch mitzuerfassen, und konnte somit gegenüber der Finanzverwaltung nicht begründen, wieso die Kosten steigen.

Die Resultate davon sind:

  • viele Kinder mit Behinderungen werden ohne ihren Schulhelfer dem Unterricht nicht mehr folgen und dementsprechend nicht mehr lernen können
  • Kinder, die während der Schulzeit eine pflegerische oder medizinische Versorgung benötigen, können ohne ihren Schulhelfer die Schule gar nicht mehr besuchen und werden zu Hause bleiben müssen
  • dies wiederum bedeutet für Familien, bei denen beide Elternteile berufstätig sind, dass eines der Elternteile seinen Job aufgeben muss, um die ganztätige Versorgung des Kindes sicherzustellen – und damit für einige nicht nur den Verlust des Arbeitsplatzes, sondern auch ein „Abrutschen“ in die Regelungen des ALG II/Hartz IV
  • Kinder, die teilweise oder bereits ganz integrativ an einer Regelschule beschult werden, können dem Unterricht dort ohne Schulhelfer nicht mehr folgen und werden zurück an die Sonderschulen verwiesen – dies steht gänzlich im Widerspruch zu den Idealen von Integration und Inklusion
  • diesen Kindern wird somit ihr Menschenrecht auf Bildung genommen, und das passiert an allen unterschiedlichen Lernorten. Familien, die ohnehin durch die Behinderung ihrer Kinder einen schwierigeren Alltag haben, werden somit noch stärker sozial und gesellschaftlich benachteiligt, sie werden schlicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen.

Diese Missstände werden morgen mit dem Beginn des Schuljahres 2009/2010 in Berlin Realität. Derweil versucht die Senatsverwaltung für Bildung abzulenken, indem man von angeblich so guter personeller Ausstattung der Schulen kündet, die wenn überhaupt, jedoch nur auf dem Papier existiert. Schulen wird chronisch krankes Personal als vorhanden angerechnet, der Senat erwähnt punktuell gezielt „zusätzliche Betreuer“, obwohl es für Betreuer einen festen Zumessungs-Schlüssel gibt. Wobei Betreuer aufgrund mangelnder sonderpädagogischer und pflegerisch-medizinischer Ausbildung keinesfalls Schulhelfer ersetzen können. Die Senatsverwaltung behauptet, es handele sich nur um Einzelfälle: auch das stimmt nicht, es gibt Betroffene quer durch Berlin.

Herr Steinmeier, wir fragen Sie, wie lässt sich eine derart skandalöse SPD-Politik, die in der Hauptstadt nun Realität ist, mit Ihrem ambitionierten Wahlprogramm in Einklang bringen?

Betroffene Eltern in Berlin werden sich das Vorgehen von Bildungssenator Zöllner und seiner Senatsverwaltung für Bildung nicht gefallen lassen. Der komplette Sachverhalt, wie auch dieses Schreiben, wird in den nächsten Tagen nicht nur regional, sondern bundesweit auf breiter Ebene kommuniziert werden. Am 05.09.2009 wird eine ganzseitige Anzeige in einer renommierten Tageszeitung erscheinen – dafür sind bereits Spenden aus dem gesamten Bundesgebiet eingegangen. Viele Menschen werden dann in der Zeitung lesen können, wie ernst es die SPD meint mit „Gute Bildung für alle“ – dem aktuellen Wahlslogan der Bundes-SPD.

Herr Steinmeier, Sie erhalten hiermit eine einzigartige Chance: Sie können unter Beweis stellen, dass Sie die o.g. Sätze aus Ihrem Wahlprogramm auch politisch ernsthaft umsetzen. Zeigen Sie uns und unseren besonderen Kindern, dass die SPD tatsächlich noch für soziale Politik steht – in der Bildungspolitik der Hauptstadt haben wir die Hoffnung diesbezüglich so gut wie aufgegeben.

Für weitere Informationen zum Sachverhalt können Sie sich gerne an uns wenden, per E-Mail, telefonisch oder auch im Rahmen eines persönlichen Gespräches. Auf unserer tagesaktuellen Internet-Plattform sind zudem die meisten Informationen zusammengefasst.

Mit freundlichen Grüßen,

Elternzentrum Berlin e.V., Netzwerk Förderkinder und Familien von Kindern mit Behinderungen